Hurrikan Harvey – Das Leben in den Tagen nach der Flut

 
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published: 2 September 2017
by: Dirk Hautkapp

Houston, Texas

Als Benny Pastoras Frau Hellen an diesem sengend heißen Donnerstag wieder schlammigen Boden unter den Füßen hat, huscht ein Anflug tiefer Dankbarkeit über das Gesicht des pensionierten Mathematiklehrers. Weil sein Haus in der Mason Street 35 Kilometer westlich der glitzernden Hochhaussilos von Houstons Innenstadt nach Hurrikan “Harvey” 1,50 Meter unter Wasser steht, haben die Polizeichefs von Fort Bend, Troy Nehls und sein Zwillingsbruder Trevor, einen Notfalldienst eingerichtet, der Gold wert ist.

Auf dröhnend lauten Sumpfbooten, wie man sie aus den Everglades in Florida kennt, werden die Bewohner der auf zehn Quadratmeilen vollgelaufenen “Cinco Ranch”-Siedlung im Westen der texanischen Metropole in Gruppen zu ihren Häusern geschifft. Um Haustiere abzuholen, die bei der Flucht zurückgelassen wurden. „Wenn wir Familien, die alles verloren haben, mit ihren Lieblingen wiedervereinen können“, sagt der auf seine deutschen Wurzeln stolze Ordnungshüter Troy Nehls, „dann nimmt das etwas den Schmerz und ist jede Mühe wert.“

Viele Haustiere konnten gerettet werden

Nach und nach kommen Meerschweinchen, Papageien, Wellensittiche, Hamster und sogar ein Leguan an Land. Hellen Pastora bringt die Katze „Pinto“ mit. Und – sie ist Orchestermusikerin – eine wertvolle Violine. „Der Rest ist wohl verloren“, sagt sie und muss dabei die Tränen unterdrücken. Die Geschichte der Pastoras ist eine Woche nach dem Landgang des wohl regenreichsten Wirbelsturms aller Zeiten beinahe typisch. Nicht der Hurrikan an sich hat ihr Leben durcheinandergewirbelt. Nicht die kleineren Tornados, die danach über das Land fegten. Nicht die apokalyptischen Niederschlagsmengen von bis zu 1250 Litern pro Quadratmeter. Erst als die in den 1940er Jahren angelegten Regenrückhaltebecken Houstons, „Barker Cypress” und “Addicks“, wegen Überfüllung zu bersten drohten und die Verantwortlichen um Bürgermeister Sylvester Turner den Stöpsel zogen, war ihr Schicksal und das Tausender anderer Hausbesitzer besiegelt – durch kontrollierte Überflutung.

Die Konsequenzen für die Pastoras: Wertverlust von knapp 250 000 Dollar. Schlussstrich nach 17 Jahren Glücklichsein an der Peripherie von Amerikas Energiehauptstadt. Und die bange Frage, wie lange die existenzielle Notlage angesichts fehlender Flutschädenversicherung andauern wird, von der Präsident Donald Trump auch bei seinem zweiten Besuch in der Krisenregion an diesem Samstag wieder sagen wird, dass man sie doch für alle Betroffenen “ganz bestimmt sehr zügig” lindern will. Knapp sechs Milliarden Dollar Soforthilfe soll der Kongress in Washington schon nächste Woche auf Drängen des Präsidenten bewilligen. Zum Vergleich: Für Hurrikan “Sandy”, der 2012 an der Küste New Jerseys wütetet, machte das Parlament 50 Milliarden Dollar locker.

Wochen bis Monate bis die Fluten zurück gegangen sind

Pastoras Nachbar Larry Monahan, ein Mann mit dem Händedruck einer Bärentatze, glaubt Trumps Versprechen ebenso wenig wie der Beteuerung der Einsatzkräfte, dass sein gediegenes Vororthaus in drei Wochen wieder fußläufig erreichbar sein wird. „Eher werden es drei Monate, bis das Wasser weg ist.” Der Versicherungsvertreter kennt sich im Etat der Katastrophenschutzbehörde Fema aus, die gerade noch drei Milliarden auf der hohen Kante hat – aber, Stand Freitag, bereits 300 000 Anträge von Flutopfern aus Texas. “Die Schäden reichen von Rockport im Westen bis Beaumont an der Grenze zu Louisiana. Das sind fast 500 Kilometer Küste. Sie können sich ungefähr ausrechnen, was da für jeden übrig bleibt.” Monahan zuckt mit den Schultern und blickt auf das wie kalte Kaffeebrühe aussehende Wasser in seiner Straße, über dem Geschwader von Libellen kreisen. Es stinkt nach Fäulnis und Abfällen. Vereinzelt ragen Autodächer und Kofferraumklappen aus den Fluten. Moskitos suchen nach den nackten Waden der Helfer.

Dass es so weit kommen konnte, „kommen musste“, ist für John und Dee Dillmann sonnenklar. Bis Ende August 2005 hatte das Ehepaar im French Quarter von New Orleans einen florierenden Secondhand-Buchladen. Wirbelsturm “Katrina” hat sie um 70 000 Dollar ärmer und zu Heimatvertriebenen gemacht. Im Houstoner Stadtteil Woodland Heights bietet ihr “Kaboom”-Laden heute Leseratten 100 000 eng gestapelte Bände. „Es hört sich vielleicht seltsam an. Aber man darf sich einfach davon nicht überwältigen lassen“, sagt Dillmann, „sonst kommt man nie mehr davon weg im Leben.“  Dee, seine Frau, lacht verlegen und streichelt die Hauskatze. „Wir sind ja diesmal auch glimpflich davongekommen. Eine kaputte Fensterscheibe vom Sturm, viel mehr war nicht. ‘Katrina’ hatte ein anderes Kaliber.“ Nur die tieferen Ursachen beider Katastrophen, die seien vergleichbar: menschliches Fehlverhalten. In New Orleans waren es fahrlässig porös und zu klein dimensionierte Deiche, die ganze Stadtviertel absaufen ließen. “Houston entwickelt sich dagegen wie eine Metastase”, sagt Dillmann. Das Bevölkerungswachstum (seit 2000 knapp zwei Millionen mehr) geht einher mit einem ungezügelten Boom bei der Erschließung neuer Quartiere. Weil eine Bebauungsplanung nach europäischer Tradition nicht existiert, hat sich die Metropol-Region mit versiegelten Flächen immer weiter in die von Natur aus sumpfige Prärielandschaft gefressen. Dillmann kennt die Konsequenz: „Der Boden kann das Wasser nicht mehr aufnehmen. Kommt es zu extremen Wetterlagen, steht Houston unter Wasser.“ Ob „Harvey“ im wachstumshörigen Texas einen Sinneswandel einleiten wird?

Die führende Lokalzeitung, der „Chronicle“, berichtet von rund 50 Toten, die “Harvey” mittlerweile gefordert hat. Und die Gefahr ist trotz des blauen Spätsommerhimmels und Temperaturen über 30 Grad noch nicht gebannt. Der Brazos-Fluss stieg am Freitag auf einen Rekordpegel von über 17 Metern. Neue Überflutungen in einem 200 Quadratkilometer großen Gebiet südwestlich von Houston sind nach Angaben von Katastrophenschützern programmiert.

Im Notaufnahmezentrum versuchen Frida Villalobos und die anderen Mitarbeiter der Sozialorganisation BakerRipley, die düsteren Nachrichten nicht an ihre Schutzbefohlenen heranzulassen. Spielsachen für die Kinder, frische Bettdecken und Ersatzkleidung, Zahnpasta und Shampoo, warme Mahlzeiten, weiche Feldbetten – wer hier, wo sonst Kongresse und Rodeoreiter ihren Platz haben, die kommenden Nächte verbringt, weil das Zuhause unter Wasser steht, dem soll es an möglichst nichts fehlen. Kierra Kenebrew ist „verdammt froh“ darüber. Die 25-Jährige gehört zu den Hunderten Zwangsevakuierten, deren Wohnungen zur Entlastung der Dämme geflutet werden mussten. „Mein Auto ist hinüber. Mein Haus ebenfalls. Wir wissen noch nicht, wie es weitergeht.“ Wir, das ist neben der jungen Afroamerikanerin Söhnchen Messiah, vier Wochen alt. „Nicht mal 30 Minuten hatten wir Zeit, um das Nötigste zu packen“, sagt die junge Mutter mit feuchten Augen, “dann kam schon die Cajun Navy und hat uns abgeholt.”

Für Dan Harris ist das alles sehr weit weg. Der 69-Jährige hat sich mit seinem Pitbull „Bruno“ im Golfkart an der Kreuzung postiert, an der die Polizei die Straße zur Chemiefabrik Arkema nördlich von Houston abgesperrt hat. Dort gab es hochwasserbedingt mehrere Explosionen. Anwohner wurden im Umkreis von 2,5 Kilometer evakuiert. Harris blieb. „Angst habe ich nicht. Ich weiß, die stellen da gefährliches Zeug her. Muss man mit leben.“ Genauso wie mit „Harvey“ und der Flut? “Demokraten denken sofort immer an Klimawandel”, sagt Harris, „Republikaner wissen: Mutter Natur hat schon immer das gemacht, was sie wollte. Gegen zwei Meter Wasser richtet niemand etwas aus.“

Sieht Nachbar Wendell Franklin auch so. Bevor der 62-jährige Mechaniker seinen Kautabaksaft in den Straßengraben spukt und sich zur Arbeit aufmacht, sagt er: „Der liebe Gott hat mich vor der Flut beschützt. Sonst niemand.“

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